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Sigmaringen, den 03.08.2012

Herrn Justizminister

Rainer Stickelberger MdL

Justizministerium Baden-Württemberg                                                                         
Schillerplatz 4
70173 Stuttgart
 

 

 

 

 

 

 

Abschaffung des Widerspruchsverfahrens

Schreiben Ihres Hauses vom 10.07.2012 an die

OLG- und VGH-Präsidenten, Az. 1223/0187B

 

 

 

Sehr geehrter Herr Minister Stickelberger,

 

 

erlauben Sie, dass ich Sie als zuständigen Ressortminister im Zusammenhang mit dem geplanten Aufgabenabbau bei den Regierungspräsidien auf die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens anspreche, nachdem in der Verwaltungsgerichtsbarkeit das o.g. Schreiben vom 10.07.2012 diskutiert worden ist.

 

Bereits im Jahr 2007 hat die damalige Landesregierung Überlegungen angestellt, das Widerspruchsverfahren im Land abzuschaffen. Dazu habe ich mit Schreiben an Ihr Haus vom 01.08.2007 Stellung genommen, das ich nochmals zu Ihrer Kenntnis beifüge. Hieran anknüpfend und ergänzend möchte ich zu bedenken geben:

 

Auch wenn die ins Auge gefasste Abschaffung des Widerspruchsverfahrens die Bedeutung der Verwaltungsgerichte steigert, steht der Verein der Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter Baden-Württemberg ihr sehr skeptisch gegenüber.

 

Ausgangspunkt aller Überlegungen müssen die Funktionen des Vorverfahrens sein. Auf diese bin ich bereits in meinem genannten Schreiben eingegangen. Sorgfältig und differenziert beleuchtet werden sie in dem Aufsatz von Dolde/Porsch, Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens – ein bedauernswerter Abbruch eines Grund-pfeilers der VwGO?, VBlBW 2008, 428. Dessen überzeugende Grundgedanken will ich hier nicht wiederholen. Dolde und Porsch kommen zu dem Ergebnis, dass der Landesgesetzgeber mit § 6a AGVwGO (heute § 15 AGVwGO, Ausschluss des Vorverfahrens, wenn das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt erlassen oder abgelehnt hat) eine praxisgerechte und bewährte Entlastungsregelung geschaffen hat, dass sich eine generelle Abschaffung des Widerspruchsverfahrens aber nicht empfiehlt.

 

Dass das Widerspruchsverfahren seine Aufgaben zunehmend nicht mehr erfüllt, beobachten wir als Verwaltungsrichter in unserer täglichen Arbeit mit Sorge. Im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung als wesentlichen Pfeiler unseres Rechtsstaats berührt es uns etwa schmerzlich, dass die Regierungspräsidien in Bausachen anlässlich eines Widerspruchs immer weniger die Einhaltung des objektiven Baurechts überwachen, sondern sich entsprechend dem Maßstab des Widerspruchsverfahrens darauf beschränken, eine Verletzung von Nachbarrechten zu prüfen. Aufgrund dieser Entwicklung haben wir uns vor fünf Jahren den entsprechenden Überlegungen nicht von vorneherein verschlossen, sondern die Pläne zur Evaluation in einem Pilotprojekt begrüßt, um zu fundierten Erkenntnissen, bspw. über die Befriedungswirkung des Widerspruchsverfahrens, zu kommen.

 

Wenn die neue Landesregierung nunmehr aus Kostengründen ohne solche fundierten Erkenntnisse das Widerspruchsverfahren einschränken oder ganz abschaffen will, so widerspricht dies der im Übrigen so hoch gehaltenen Bürgerfreundlichkeit. Aus der Sicht des Bürgers ist es vor allem widersinnig, eine Landesverfassungsbeschwerde einzuführen, den zeitlich ersten und regelmäßig günstigsten und schnellsten Rechtsbehelf gegen eine Verwaltungsentscheidung aber abzuschaffen. Die Landesverfassungsbeschwerde steht nach der amtlichen Begründung im Gesetzesvorblatt „für das Primat des Rechts gegenüber der Politik und für den direkten Zugang des ‚einfachen‘ Bürgers zum höchsten Gericht. Sie eröffnet auch dem in seinen rechtlichen Erwartungen von der Staatsgewalt bislang Enttäuschten eine Identifikationsmöglichkeit mit dem Gemeinwesen.“ Ihr Ziel ist laut amtlicher Begründung die Verbesserung des Rechtsschutzes im Land durch die Einführung eines zusätzlichen Rechtsbehelfs „vor Ort“. Wenn alsbald nach Einführung der Landesverfassungsbeschwerde das Widerspruchsverfahren abgeschafft wird, muss der Bürger enttäuscht feststellen, dass ihm zwar ein zusätzlicher Rechtsbehelf gegeben, jedoch ein bekannter und bewährter Rechtsbehelf „vor Ort“ genommen wird. Eine Verschlechterung statt der versprochenen „Verbesserung des Rechtsschutzes“ liegt auch darin, dass ihm nun zwar eine Grundrechtsprüfung gegeben, dafür aber die zeitnahe umfassende Gesetz- und Zweckmäßigkeitsprüfung im Vorverfahren genommen wird. Dies trägt nicht zur Glaubwürdigkeit der Rechtspolitik bei und ist für den betroffenen Bürger umso bedauerlicher, weil es sich beim Widerspruchsverfahren um ein ortsnahes, kostengünstiges und damit „niederschwelliges“ Rechtsschutzverfahren handelt, das deshalb bürgerfreundlich ist und seinen Platz in unserem Rechtsschutzsystem hat.

 

Ergänzend möchte ich nochmals auf den Zusammenhang zwischen Widerspruchsverfahren und Mediation hinweisen, der bereits in meinem Schreiben vom Jahr 2007 und auch in dem genannten Aufsatz von Dolde/Porsch von 2008 aufgezeigt wird. Hervorgehoben sei ferner, dass die weitergehende Abschaffung des Widerspruchsverfahrens auch noch durch den Umstand verschärft wird, dass auch bei der Rücknahme einer verwaltungsgerichtlichen Klage Gerichtsgebühren anfallen.

 

 

Mit freundlichem Gruß

 

 

Dr. Christian Heckel

Richter am VGH

 

 

 

 

Anlage: Schreiben vom 01.08.2007