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Mannheim, den 01.08.2007

Justizministerium Baden-Württemberg

Herrn Ministerialdirigenten Ellenberger

Postfach 10 34 61

 

70029 Stuttgart

 

 

 

 

 

 

Überlegungen zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens

 

 

 

Sehr geehrter Herr Ellenberger,

 

wie wir erfahren haben, plant die Landesregierung, im Rahmen eines Pilotversuchs das Widerspruchsverfahren (Vorverfahren gemäß §§ 68 ff. VwGO) in einem Regierungsbezirk vorübergehend ganz abzuschaffen und in einem anderen zur Disposition des Betroffenen zu stellen (fakultative Abschaffung).

 

Als Verwaltungsrichter mussten wir in den letzten Jahren zunehmend feststellen, dass das Widerspruchsverfahren die ihm zugedachten Funktionen – u. a. Selbstkontrolle der Verwaltung, Entlastung der Verwaltungsgerichte – in wichtigen Bereichen nur noch unzureichend erfüllt. Unser Verein bedauert diese Entwicklung vor allem deshalb, weil es sich beim Widerspruchsverfahren für den betroffenen Bürger um ein ortsnahes, kostengünstiges und damit „niederschwelliges“ Rechtsschutzverfahren handelt, das deshalb bürgerfreundlich ist und seinen Platz in unserem Rechtsschutzsystem hat. Wenn nunmehr – wohl aus fiskalischen Gründen – darüber nachgedacht wird, das Widerspruchsverfahren einzuschränken, so können wir uns aufgrund dieser Entwicklung solchen Überlegungen zwar nicht von vorneherein verschließen. Der Verein der Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter Baden-Württemberg regt aber an, bei den weiteren Überlegungen Folgendes zu berücksichtigen:

 

Zu einer fundierten Stellungnahme fehlt es dem Verein derzeit an gesicherten Erkenntnissen, bspw. über die Befriedungswirkung des Widerspruchsverfahrens. Aufgrund dessen begrüßen wir das Vorhaben der Landesregierung, zunächst ein Pilotprojekt durchzuführen, in dessen Rahmen solche Erkenntnisse gewonnen werden können. Es erscheint uns insoweit sinnvoll, in zwei Regierungsbezirken zeitgleich unterschiedliche Modalitäten der Einschränkung des Widerspruchsverfahrens zu erproben. Das Zahlenmaterial, das in den beiden nicht betroffenen Regierungsbezirken zur Situation ohne Einschränkung des Widerspruchsverfahrens erhoben werden kann, sollte im Rahmen der Auswertung ebenfalls herangezogen werden. Dadurch können nicht nur aussagekräftige Informationen auf einer breiten Basis erhoben werden, sondern es wird auch der Gefahr begegnet, dass Erkenntnisse zu einzelnen Rechtsgebieten im Bereich des Pilotprojekts durch die Handhabung einzelner Sachbearbeiter im jeweiligen Regierungspräsidium positiv oder negativ beeinflusst werden und somit zu „Zufallsergebnissen“ führen.

 

Es wird seitens des Vereins für wichtig erachtet, dass das Pilotprojekt ergebnisoffen abläuft und nicht von vornherein die weitestgehende Einschränkung des Widerspruchsverfahrens und damit die größtmögliche Kostenersparnis der Innenverwaltung – zulasten der Verwaltungsgerichtsbarkeit – angestrebt wird. Vielmehr sollte das Ziel eine differenzierende Regelung sein, die das Widerspruchsverfahren in denjenigen Rechtsgebieten (zumindest fakultativ) beibehält, in denen es seine in § 68 VwGO vorgesehenen Funktionen (Rechtsschutz des Bürgers, Selbstkontrolle der Verwaltung, Entlastung der Gerichte) wirksam entfaltet.

 

Im Übrigen gibt es Stimmen, die bei vollständiger oder fast vollständiger Abschaffung des Widerspruchsverfahrens das gesetzliche „Leitbild“ nicht mehr gewahrt sehen, weil der Bundesgesetzgeber die Nachprüfung eines Verwaltungsakts in einem Vorverfahren als Regelfall (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und den Wegfall einer solchen Nachprüfung durch gesetzliche Bestimmung als Ausnahme ansieht (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO).

 

Wenn das Widerspruchsverfahren ganz oder für Teilbereiche abgeschafft wird (ohne Möglichkeit eines fakultativen Widerspruchs), sollten aber in jedem Falle folgende Gesichtspunkte beachtet werden:

 

1.   Es muss gesichert sein, dass der gerichtliche Rechtsschutz effektiv bleibt und die Gerichte mit den nötigen personellen Ressourcen ausgestattet werden. Insbesondere das Kammerprinzip muss als Korrektiv zur Einschränkung des Widerspruchsverfahrens unbedingt erhalten bleiben.

 

2.   Es besteht zudem die Gefahr, dass im Vergleich zum „niederschwelligen“ Widerspruchsverfahren der Bürger eine Klageerhebung aus Kostengründen scheut. Um die Schwelle zur Klageerhebung für den Bürger nicht unnötig zu erhöhen, sollte über die Rückgängigmachung einiger Regelungen des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 05.05.2004 nachgedacht werden. Insbesondere der Kostenvorschuss bei Klageerhebung sowie die Abschaffung der Möglichkeit, die Klage ohne Anfall von Gerichtsgebühren zurückzunehmen, dürften insoweit auf den Prüfstand zu stellen sein.

 

3.   Da durch die Einschränkung des Widerspruchsverfahrens Möglichkeiten der außergerichtlichen Streitbeilegung wegfallen (insbesondere im Baurecht), sollte darauf hingewirkt werden, mediative Elemente bei den Verwaltungsgerichten zu stärken.

 

 

Mit freundlichen Grüßen

 

 

 

(Dr. Heckel)

Richter am VGH