22.10.2008
Herrn Innenminister
Heribert Rech
Innenministerium Baden-Württemberg
Dorotheenstraße 4
70173 Stuttgart
Überlegungen zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens
Sehr geehrter Herr Innenminister,
wie wir erfahren haben, hat die Landesregierung die Pläne eines
Pilotversuchs zur Abschaffung des Widerspruchsverfahrens (Vorverfahren
gemäß §§ 68 ff. VwGO) aufgegeben und Sie mit der Erarbeitung eines
Gesetzentwurfs beauftragt. Daher möchte ich Ihnen schon frühzeitig vor
einer förmlichen Verbändeanhörung die Positionen unseres Berufsverbands
hierzu aufzeigen und Sie bitten, diese im Gesetzgebungsverfahren
aufzunehmen.
Als Verwaltungsrichter mussten wir in den letzten Jahren zunehmend
feststellen, dass das Widerspruchsverfahren die ihm zugedachten
Funktionen – u. a. die Selbstkontrolle der Verwaltung und die Entlastung
der Verwaltungsgerichte – in wichtigen Bereichen nur noch unzureichend
erfüllt. Unser Verein bedauert diese Entwicklung vor allem deshalb, weil
es sich beim Widerspruchsverfahren für den betroffenen Bürger um ein
ortsnahes, kostengünstiges und damit „niederschwelliges“
Rechtsschutzverfahren handelt, das deshalb bürgerfreundlich ist und
seinen Platz in unserem Rechtsschutzsystem hat. Wenn nunmehr – wohl aus
fiskalischen Gründen – darüber nachgedacht wird, das
Widerspruchsverfahren einzuschränken, so können wir uns aufgrund dieser
Entwicklung solchen Überlegungen zwar nicht von vorneherein
verschließen. Wir bitten aber, Folgendes zu berücksichtigen:
Zu
einer fundierten Stellungnahme fehlt es uns derzeit an gesicherten
Erkenntnissen, beispielsweise über die Befriedungswirkung des
Widerspruchsverfahrens. Aufgrund dessen hätten wir ein Pilotprojekt
begrüßt, in dessen Rahmen solche Erkenntnisse gewonnen werden können.
Nun sollten wenigstens die vorhandenen Erfahrungen aus anderen
Bundesländern, etwa Bayern, sorgfältig ausgewertet werden. Wir erachten
es für wichtig, dass diese Auswertung ergebnisoffen abläuft und nicht
von vorneherein die weitestgehende Einschränkung des
Widerspruchsverfahrens und damit die größtmögliche Kostenersparnis der
Innenverwaltung – zulasten der Verwaltungsgerichtsbarkeit – angestrebt
wird. Die Entscheidung sollte wegen ihrer langfristigen Tragweite für
Bürger, Behörden und Gerichte auch nicht an der momentanen
Arbeitsbelastung der Verwaltungsgerichte ausgerichtet werden, weil diese
nach der Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte immer wieder stark und
unvorhersehbar schwankt.
Vielmehr sollte das Ziel eine differenzierende Regelung sein, die das
Widerspruchsverfahren in denjenigen Rechtsgebieten (zumindest
fakultativ) beibehält, in denen es seine in § 68 VwGO vorgesehenen
Funktionen (Rechtsschutz des Bürgers, Selbstkontrolle der Verwaltung,
Entlastung der Gerichte) wirksam entfaltet. Die Bürgernähe und die
Bürgerfreundlichkeit, welche in den letzten Jahren ein wichtiges
Anliegen der Landesregierung waren und sich gerade auch in
organisatorischen Entscheidungen wie der Beibehaltung kleiner
Amtsgerichte und der Verwaltungsreform niederschlugen, sollten auch bei
dieser wichtigen Entscheidung über den Rechtsschutz ein Ausschlag
gebendes Entscheidungskriterium sein. Es ist aus unserer Sicht
bemerkenswert, dass sich nach einer Fachtagung des Bundes Deutscher
Verwaltungsrichter, auf der am 12./13. Juni 2008 in München die
Abschaffung des Widerspruchsverfahrens diskutiert wurde, mehrere
Fernsehmagazine gerade im Hinblick auf die derzeitigen Maßnahmen zu
Behördenreorganisation und Bürokratieabbau für die Beibehaltung dieses
Rechtsbehelfs ausgesprochen haben. Auch ist zu bedenken, dass nach der
Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Niedersachsen, vor allem in
der mittelbaren Staatsverwaltung von Kammern und Kommunen, statt des
abgeschafften Vorverfahrens teilweise ein nicht geregeltes „good-will-Verfahren“
praktiziert worden ist. Gerichtspräsidenten aus Bayern und Niedersachsen
haben sich nach den ersten Erfahrungen mit der Abschaffung des
Widerspruchsverfahrens für eine differenzierende Lösung ausgesprochen
(vgl. den Tagungsbericht vom „kleinen Verwaltungsgerichtstag“ im
beigefügten BDVR-Rundschreiben Heft 3/2008, S. 103, 105 ff.).
Im Übrigen gibt es Stimmen, die bei vollständiger oder fast
vollständiger Abschaffung des Widerspruchsverfahrens das gesetzliche
„Leitbild“ nicht mehr gewahrt sehen, weil der Bundesgesetzgeber die
Nachprüfung eines Verwaltungsakts in einem Vorverfahren als Regelfall (§
68 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und den Wegfall einer solchen Nachprüfung durch
gesetzliche Bestimmung als Ausnahme ansieht (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
Insgesamt gibt es Regelungsbereiche, in denen es sinnvoll ist, das
Widerspruchsverfahren wenigstens fakultativ beizubehalten und dem Bürger
die Wahl zu lassen, ob er einen Bescheid (etwa zur Überprüfung der
Tatsachengrundlagen wie der Grundstücksgröße bei Abgabensachen) zunächst
durch Widerspruch oder (etwa zur reinen Rechtsprüfung einer Satzung, die
er für nichtig hält) direkt durch eine verwaltungsgerichtliche Klage
angreifen will. Wenn das Widerspruchsverfahren ganz oder für
Teilbereiche abgeschafft wird (ohne Möglichkeit eines fakultativen
Widerspruchs), müssen aus unserer Sicht in jedem Falle folgende
Gesichtspunkte beachtet werden:
1.
Es muss gesichert sein,
dass der gerichtliche Rechtsschutz effektiv bleibt und die Gerichte mit
den nötigen personellen Ressourcen ausgestattet werden. Insbesondere das
Kammerprinzip muss als Korrektiv zur Einschränkung des
Widerspruchsverfahrens unbedingt erhalten bleiben. Dies wurde uns vom
Justizministerium bereits zugesagt.
2.
Es besteht zudem die
Gefahr, dass im Vergleich zum „niederschwelligen“ Widerspruchsverfahren
der Bürger eine Klageerhebung aus Kostengründen scheut. Um die Schwelle
zur Klageerhebung für den Bürger nicht unnötig zu erhöhen, sollten
einige Regelungen des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 05.05.2004
rückgängig gemacht werden. Insbesondere der Kostenvorschuss bei
Klageerhebung sowie die Abschaffung der Möglichkeit, die Klage ohne
Anfall von Gerichtsgebühren zurückzunehmen, sind auf den Prüfstand zu
stellen. Ihr Bayerischer Kollege, Herr Staatsminister des Innern
Herrmann, hat sich in seiner Rede beim Festakt des Verbandes der
Bayerischen Verwaltungsrichter am 12.06.2008 gerade im Zusammenhang mit
der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens für die Wiederabschaffung des
Kostenvorschusses und der Gerichtsgebühr bei Klagerücknahme
ausgesprochen (abgedruckt im beigefügten BDVR-Rundschreiben Heft 3/2008,
S. 112, 113 Mitte). Eine entsprechende Bundesratsinitiative sollte von
Baden-Württemberg unbedingt unterstützt werden.
3.
Da durch die Einschränkung
des Widerspruchsverfahrens Möglichkeiten der außergerichtlichen
Streitbeilegung wegfallen (insbesondere im Baurecht), sollte darauf
hingewirkt werden, mediative Elemente bei den Verwaltungsgerichten zu
stärken.
Mit freundlichen Grüßen
(Dr. Heckel)
Richter am VGH
Anlage:
BDVR-Rundschreiben Heft 3/2008
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